Wer den Begriff Fachkräftemangel hört, denkt schnell an Recruiting. Wo bekommen wir bloss schnell gute Leute her? Dann fliesst viel Kraft und Geld in die Personalwerbung, aber irgendwie hilft es nicht. Woran kann das liegen? Und wie geht es besser?
Wir alle kennen die einschlägigen Stellenangebote auf den grossen Plakatwänden. Beispiele gibt es mehr als genug:
„Du willst den coolsten Job der Welt? Dann bist Du bei uns richtig!“
„Wir suchen den ultimativen Sandwich-Gott“
Und dann möglichst mit QR-Code, weil man ja ein unheimlich moderner Arbeitgeber ist. Diese Displays sind teilweise so peinlich, dass wir uns fragen: „Welcher Vollpfosten sollte sich denn bei denen melden?“ Und genauso sieht das die Zielgruppe auch. Während sich diese Art der Anzeigen eher an regionale Interessenten richtet, stellen uns die Business-Netzwerke, wie LinkedIn & Co. vor andere Herausforderungen: „Head of“ …“Vice President“…“Senior-Irgendwas“…“Program Director“ …“Chief-Architect“, um nur einige Beispiele zu nennen. Hier scheint man in vielen Fällen darauf zu spekulieren, dass ein schöner Titel die besten Interessenten bringt. Anzeigen in „SoMe“ sind teuer, auch seitdem Google in diesem rentablen Business mitspielt.
All dies sind verzweifelte Versuche zur Selbstrechtfertigung der Recruiting-Abteilungen, die in der HR angesiedelt sind. Ganz zu schweigen von den unsäglichen Onboarding-Prozessen, welche die Unternehmen mit sehr viel Zeit belasten. Na gut; gemeckert ist schnell. Das Ziel dieser Schilderung ist nur die Selbstreflexion. Denn wir alle lesen diese Anzeigen und fragen uns, woher denn ausgerechnet genau diese Spezialisten herkommen sollen. Diese führt im Übrigen in der Konsequenz dazu, dass der ein oder andere Bewerber dazu neigt, seinen CV etwas ambitionierter anzupassen.
Ein völlig neues Phänomen ist die Entziehung aus dem Arbeitsmarkt. Fachkräfte stehen dem Arbeitsmarkt einfach nicht mehr zur Verfügung, weil sie nicht bereit sind, sich gedankenlos unterordnen zu müssen. Am bekanntesten ist diese Entsagung in der Gastronomie, aber auch im Bereich des Managements ziehen sich viele nach genauer Betrachtung der eigenen Situation zurück, -beispielsweise, weil die Wohnung abbezahlt und die Kinder aus dem Haus sind. Denn dann reicht weniger Geld zum Leben aus und man kann Sinnstiftendes tun. Der ehemalige Steuerberater repariert Fahrräder, der Ingenieur eröffnet eine Vinothek, die Controlling-Managerin geht auf Teilzeit, um im Fitness-Studio zu arbeiten. Wir alle kennen diese Beispiele aus unserem privaten Umfeld.
Leider erfordert der Prozess zur nachhaltigen Fachkräftegewinnung eine gründliche Vorbereitung. Auch die Offenlegung dieser Vorbereitung kann ein Trumpf sein. Doch dazu später mehr. Um eine Metapher zu nutzen: Es ist nicht mehr so, dass der Unternehmer der Busfahrer ist und seine Leute überall mit hinnimmt. Vielmehr entscheiden die Menschen, wo sie einsteigen, wie lange sie mitfahren und wo sie wieder aussteigen. Umso aufregender die Busfahrt ist – und das liegt immer an Beteiligung und Mitgestaltung – desto länger bleiben die Menschen an Bord und immer mehr steigen zu.
Es ist aber auch nicht so, dass sich ein Arbeitgeber bis zur Unwirtschaftlichkeit verbiegen muss, um nur noch das Wunschkonzert der Beschäftigten zu spielen. Jeder kennt seine eigene Rolle. Nicht alle wollen Verantwortung tragen, nicht jeder will reisen, und nicht alle haben gleiche Fähigkeiten. Aber gemeinsam ergeben sie ein Ganzes, alle sind wichtige Teile einer leistungsfähigen Organisation. Das klare, gemeinsame Ziel ist immer der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens.
Aus einer Studie der Erasmus GmbH (Neuss/D) wurden die Dimensionen zur nachhaltigen Bewältigung des Fachkräftemangels herausgearbeitet. Am Ende geht es um Glaubwürdigkeit im Arbeitsalltag. Das, was Unternehmen nach aussen hin versprechen, muss im Arbeitsalltag auch gelebt werden. Dies erfordert – und das ist auch im Soll-Ranking der Arbeitgeber an Stelle Eins – die Veränderung des Mindsets von Führungskräften und Mitarbeitenden. Was alle wollen, ist eine „Lernende Organisation“ mit folgenden Einzelzielen:
- Klare Visionen, gemeinsame Zielsetzungsprozesse, Orientierung am Nutzen der Kunden
- Kooperations- und Konfliktlösungsfähigkeit, wechselseitiges Vertrauen und Teamgeist
- Prozessorientierung und Selbstregulation in Gruppen
- Demokratischer und partizipativer Führungsstil, Unterstützung neuer Ideen (v. a. durch die Führung), Innovationsmanagement
- Integration von Personal- und Organisationsentwicklung
- Belohnung von Engagement (auch Sharing-Aktivität) und Fehlertoleranz bei riskanten Vorhaben
- Fähigkeit und Möglichkeit zur Reflexion
- Funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme (KMS, LMS, TMS)*
- Rascher und genauer Überblick über die Wirkung der wichtigsten Prozesse (z.B. OKR)**
- * KMS= Knowledge Management Sys., LMS= Learning Management Sys.,
- TMS=Talent Management Sys.,**Objectives and Key Results
Um diese Ziele erreichen zu können, muss an unterschiedlichsten Schrauben justiert werden, um dem Fachkräftemangel erfolgreich begegnen zu können. Diese sind in der folgenden Grafik der Erasmus GmbH dargestellt:
Diese Grafik dient dazu, in einem ersten Schritt den Reifegrad einer Organisation zur erfolgreichen Fachkräfte-Entwicklung (finden und binden) zu ermitteln und daraus einen Handlungsplan zu entwickeln. Die Erläuterung der Punkte im Einzelnen:
1. Strategie, Visions- und Werteentwicklung
Das sogenannte Mindset entspringt gemeinsamen Werten und Zielen. Diese können mit speziellen Verfahren gemessen und entsprechend entwickelt werden. Dieses Bewusstsein muss durch immer wiederkehrende Rituale an die Situation angepasst werden, denn Entwicklungen von aussen (Krise, Krieg, Logistik, Demografie, Digitalisierung) erfordern offensives Handeln im Sinne des Unternehmenserfolgs.
2. Digitale Transformation
Digitale Methoden, die wir im Privatleben längst nutzen, sollten in ähnlicher Weise auch im Unternehmen genutzt werden. Im Gegenteil: Das Unternehmen sollte mehr Digitalität wagen. Digitalisiere konsequent, was Du digitalisieren kannst, auch wenn es im ersten Schritt nicht perfekt ist! Am Ende bringt dies unglaublich viel Vorsprung für das Unternehmen und die Mitarbeitenden lernen, Veränderung positiv zu erleben.
3. Personalentwicklung (inkl. Recruiting)
Lernen wird Teil der Arbeit. Allerdings nicht so, dass die Mitarbeitenden ständig extern an vorgefertigten Seminaren teilnehmen, sondern dass eine permanente, anlassbezogene Kompetenzbildung, bestehend aus Qualifikation, Praxiserfahrung und Werten entsteht. Die Rahmenbedingungen dazu müssen von der Führungsebene (HR) neu geschaffen und moderiert werden. Es gelten alle Formate der Weiterbildung, egal ob Workshop, E-Learning, kollegiale Fachberatung, Video-Tutorials etc. Alles ist erlaubt, wenn es dem Zweck des Unternehmenserfolges dient. Dieser und der damit verbundene Lernbedarf wird im Team entschieden und gesteuert. So wird lebenslanges Lernen, selbstorganisiertes Handeln und Mitbestimmung zu einem mächtigen Erfolgsinstrument.
4. Wissensmanagement
Eine der grössten Gefahren des Fachkräftemangels und der Fluktuation, aber auch der mangelnden Kommunikation ist der Verlust von Wissen. Es muss vermieden werden, jeden Fehler immer wieder neu zu machen. Dabei ist Wissensmanagement (Knowledge Management) weit mehr als ein Nachschlagewerk. Es ist ein Prozess, der die Entstehung von Wissen gezielt steuert (Innovationsmanagement), die gezielte Bereitstellung von Wissen und Ansprechpartnern ermöglicht und die E-Mail-Kommunikation zugunsten von Fachforen reduziert. Das Wissensmanagement wird zur zentralen Ressource im Unternehmen. #Schwarmintelligenz
5. Nachhaltiges Management
Es geht primär – aber nicht nur – um ehrliche, ökologische Nachhaltigkeit. Keine hochqualifizierte Fachkraft will heute noch für eine „Dreckschleuder“ arbeiten. Deshalb muss bei jedem Projekt auch der Aspekt der Nachhaltigkeit konsequent mit einfliessen, neuerdings auch aus ökonomischen Gründen. Allerdings zählen mit zunehmender Globalisierung die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele mehr denn je.
Denn hier geht es um Gerechtigkeit, Menschenrechte, Bildung und Innovation. Es spricht nichts dagegen, wenn sich ein Unternehmen offen zu diesen Kriterien bekennt und dies auch begründet. Vor allem die jüngere Generation ist dann bereit, sich auch ohne Mondgehälter bewusst zu engagieren. Allerdings müssen diese Kriterien in den Wertekompass eingebracht werden (siehe Punkt 1)
6. Innovation
Innovation ist eine Bedingung für den wirtschaftlichen Erfolg. Prozesse und Geschäftsmodelle müssen ständig auf Verbesserungen hin überprüft und angepasst werden. Auch dies kann systematisch gemessen und entwickelt werden, beispielsweise durch das Modell „8 Felder der Innovation“ von Prof. Dr. Gerberich, Partner des Erasmus-Instituts. (Siehe Abb.) Damit kann der aktuelle Reifegrad des Unternehmens bestimmt und entwickelt werden. Mit diesem Modell wird auch klar, dass in nahezu allen Geschäftsfeldern Innovationen nötig sind, um die Arbeitsplätze attraktiv, sicher und nachhaltig gestalten zu können.
9. Prozesse
Wenn die Prozesse intransparent und nicht effizient verlaufen, führt dies zur Frustration von Beschäftigten und Kunden. Deshalb ist es wichtig, Prozesse immer wieder verständlich zu machen und permanent zu optimieren. Auch die Kommunikation darüber führt zur nötigen Transparenz, warum bestimmte Prozesse immer noch nicht besser werden konnten, auch wenn man das Problem bereits erkannt hat. Ein Produkt oder eine Dienstleistung können nur so gut sein; wie der Prozess!
10. Vertrieb und Marketing
Wenn das Hauptziel der geschäftliche Erfolg ist, dann müssen auch Vertrieb und Marketing permanent weiterentwickelt werden. Da geht es um Glaubwürdigkeit, Ansprechpartner des Vertrauens, um Innovation, digitale Prozesse und neue Geschäftsmodelle. Mitarbeitende im Vertrieb werden durch falsche Vorgaben und Ziele zu schnellen Abschlüssen getrieben und führt sie dazu, sich bei einem besseren Angebot wegzubewerben. Vertrieb und Marketing sind die Schnittstelle nach aussen und müssen die Werte des Unternehmens glaubwürdig vertreten, um auf Bewerber und Mitarbeitende nicht abschreckend zu sein. Sie (V&M) handeln agil und sind Teil der Werte- und Prozessgemeinschaft des Unternehmens, bzw. müssen dahingehend entwickelt werden.
11. Führung
Wie so oft, kommt der Führung auch bei der Bewältigung des Fachkräftemangels eine entscheidende Rolle zu. Sie muss lernen, agil und kompetenzorientiert nach Werten zu handeln und dies vorzuleben. Die Führungskräfte sind der Multiplikator der Organisation. Ihnen kommt eine neue Rolle zu: die des „Ermöglichers“. Denn sie schaffen die Möglichkeiten, damit die Teams weitestgehend selbstorganisiert für den Erfolg der Organisation arbeiten können. Dies setzt bestimmte Denk- und Handlungsweisen voraus, aber auch die ständige Überprüfung der technischen Infrastruktur, sowie der Werte- und Kompetenzentwicklung. Es geht einfach darum, die optimalen Rahmenbedingungen zu schaffen, zu reflektieren und zu moderieren. Dieser demokratische und partizipative Führungsstil (Servant Leadership) kann entwickelt werden und ist ein wichtiges Element zur Motivation von Mitarbeitenden und Interessenten.
12. Agile Methoden
Eigentlich kann man diesen Begriff schon fast nicht mehr hören; dennoch beschreibt „Agiles Handeln“ einen Rahmen zum Umgang mit der Entwicklung von Prozessen. Es ist vielleicht sogar eine Art Handlungs-Philosophie, um kurzfristigen Änderungen und Einflüssen von aussen mit Beweglichkeit, Teamgeist und Geschick zu begegnen. Für die Entwicklung von Agilität gibt es kein Patentrezept. Es muss immer genau zur Organisation, zu den Teams und zu den Aufgaben passen. Es ist durchaus sinnvoll, einen eigenen Agilitätsrahmen zu definieren. Alle Beteiligten im Unternehmen sollten kompetenzorientiert lernen, agil zu handeln.
Fazit:
Wenn man die Fachkräfte-Problematik in ihre Einzelteile zerlegt und so auch deren Ganzheitlichkeit ersichtlich wird, dann kann man der Lösung der Herausforderung erfolgreich begegnen. Es erfordert etwas Vorbereitung, doch der nachhaltige Erfolg ist gewiss!